Das vollständige Zitat von Walter Ludin lautet „Das Rennen nach dem morgigen Glück hindert uns daran, das heutige Glück zu genießen“.
Vernünftigerweise würde man jetzt fragen: Warum rennen wir denn dann überhaupt?
Weil die meisten von uns wohl mit Sätzen aufgewachsen sind, wie: „Von nichts, kommt nichts.“ „Wenn man etwas erreichen will, muss man es sich erarbeiten.“ „Ohne Fleiß, kein Preis.“ „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Etc.
Gleich mit gelernt haben wir, was man denn so unbedingt braucht, um glücklich zu sein (mein Haus, mein Auto, meine Yacht ...), nebst der Einstellung, dass wenn wir uns mit weniger zufrieden geben, wir nicht etwa als genügsam, sondern gar als unambitioniert oder faul gelten.
Also legen wir uns natürlich mächtig ins Zeug, um irgendwann endlich glücklich sein zu dürfen. Dabei wundern wir uns gelegentlich, wo denn die vergangene Woche bzw. der Monat oder das letzte Jahr geblieben ist und wann das mit dem Glücklichsein denn mal losgeht.
Klingt verrückt, unlogisch?
Es mag hier etwas überspitzt formuliert sein, aber erkennen wir uns darin im Grunde nicht doch wieder?
Aber was hindert uns genau daran, das heutige Glück zu genießen? Ist es wirklich so, dass es kein heutiges Glück gibt? Oder gelingt es uns nur nicht das heutige Glück wahrzunehmen?
Nun, überlegen wir doch kurz, wann wir zuletzt einen Augenblick wirklich wahrgenommen haben. Also wirklich … mit allen Sinnen … ohne dabei mit den Gedanken zwischendurch zu Vergangenem oder Zukünftigem abzuschweifen oder das Erlebte sofort via Facebook, Instagram etc. mit dem Rest der Welt zu teilen.
Der australische Philosoph Roman Krnaric widmete in diesem Zusammenhang sein letztes Buch dem Prinzip des „Carpe diem“.
Übersetzt als „Nutze den Tag“ wird es häufig so interpretiert, jeden Tag zu leben, als ob es der Letzte wäre.
In Krnarics Sicht bedeutet es jedoch nicht, nur noch das zu tun, wozu wir gerade Lust haben und sich keinerlei Gedanken um die Zukunft zu machen.
Für ihn geht es vielmehr darum, dass wir unsere Freiheit nutzen, um aus unserem Leben etwas zu machen, ohne dabei kostbare Zeit zu verschwenden.
Wie stellt er sich die Umsetzung dessen vor?
Er plädiert dafür, das Leben nicht an uns vorbeiziehen zu lassen, sondern durch unsere Entscheidungen selbst zu formen. Jeden Tag sollten wir dabei reflektieren, ob die Entscheidungen, die wir getroffen haben, wirklich mit dem übereinstimmen, wie wir unser Leben führen wollen und was uns wertvoll erscheint. Würden wir diese Entscheidungen noch einmal genauso treffen, wenn wir den Tag von vorn beginnen könnten? Streben wir wirklich nach dem, was uns wichtig ist?
Im Umkehrschluss bedeutet dies, laut Krnaric, jedoch nicht, dass jede Entscheidung im Voraus von langer Hand durchdacht sein sollte.
Im Gegenteil: er plädiert dafür, häufiger spontan zu handeln, zu testen, etwas zu wagen und damit das Risiko zu scheitern in Kauf zu nehmen, um neue Erfahrungen machen zu können und sich so weiterzuentwickeln.
Konkrete Schritte zu mehr „Carpe diem“ sind für ihn z.B. mehr Spontanität, zeitweiser Verzicht auf das Handy, Achtsamkeitsübungen, auch mal die Komfortzone verlassen.
Insgesamt betrachtet er das Prinzip des „Carpe diem“ (im Sinne eines bewussten Umgangs mit der uns gegebenen Zeit) als einen von drei Bausteinen für ein erfülltes Leben; neben der Qualität unserer zwischenmenschlichen Beziehungen und einem Gefühl der Sinnhaftigkeit unseres Tuns.
Lasst uns also den Tag nutzen!